
Die Nachricht erreicht die Elternrunde am Vorabend: „Liebe ÄTSCH, Elterndienst gesucht. Agnes muss morgen leider noch zuhause bleiben!“. Da mir am nächsten Tag ein Termin ausgefallen ist, sage ich zu. Aber nur bis zur Vormittagsjause, weil wer weiß, wie anstrengend das wird. Zwei Stunden geballte Kinderenergie gegen einen beschaulichen Vormittag im Büro tauschen? Naja, was tut man nicht alles für seine Kinder.
Der Tag beginnt mit Singen im Morgenkreis. Super, Unterricht kann ich nicht, aber Musik kann ich! Ich verschanze mich hinter der Gitarre. Bald schlängeln sich links und rechts je zwei Kinderarme um mich. Jemand flüstert mir zu: „Schön, dass du heute da bist!“ Das geht runter wie Öl! Zum ersten Mal an diesem Tag freue ich mich über meine Entscheidung.
Nach dem Singen räumen die Kinder blitzschnell ihre Hocker weg und teilen sich in ihre Lerngruppen auf. Ich werde heute die älteren Kinder, die „Kakapos“, begleiten. Ich kenne sie alle, seit sie als Sechsjährige in der Ätsch gestartet haben. Sie sind mir ans Herz gewachsen. Aber ich weiß auch um ihre wilden und widerspenstigen Seiten. Wie ich die Zeit bis zur Pause anlegen soll, ist mir noch nicht klar. Ich also rein: „Ok, Kakapos, ich kenne mich hier nicht aus und ich kann auch nicht sehr laut reden. Aber heute bin ich Agnes. Helft mir! Was ist zu tun?“
Zehn Kinder sehen mich fragend an. Dann nimmt Anatol eine Mappe und Miriam gibt mir einen Stift. „Also, zuerst teilst du die Sitzplätze ein. Das geht so…“ In einem ausgeklügelten Radel werden also die mehr oder weniger attraktiven Sitzplätze für den Tag eingeteilt. Sobald ein Kind weiß, wo es sitzt, flitzt es zum Kasten und holt Bücher und Hefte raus. Das eine rennt zum Sofa im großen Raum, das andere setzt sich ans Pult neben dem Fenster. Zuletzt sind nur noch drei Kinder in der Klasse. Lotta setzt sich neben mich. Ich erstaunt: „Und was passiert jetzt?“ Lotta: “Naja, jetzt machen wir unsere Pflichtsachen. Lesen, Rechnen, Konzentrationsübungen und so. Wenn wir was brauchen, fragen wir dich. Übrigens – kann ich einen Kopfhörer haben?“. Lotta setzt sich einen Kopfhörer auf, um bei den Rechenaufgaben nicht gestört zu werden. Nötig wäre das aber nicht. Es ist mucksmäuschenstill.
Jetzt sitze ich da und staune wie Harry Potter im „Stein der Weisen“.
Hier bin ich mit zehn Kindern, die ich oft genug als wilde Ätschhorde durch die Schule toben sehe. Kinder, die sich lautstark um die gerechte Verteilung der Nachspeise streiten oder die wutschnaubend aus dem Spielzimmer stampfen, weil sie sich von der Gruppe ausgeschlossen fühlen. Jetzt sitzen sie konzentriert und in sich versunken da und machen eigenständig und ohne äußeren Zwang ihre Arbeit. Ab und zu kommt ein Kind, wenn es eine Frage hat oder sich irgendwo nicht auskennt. Zweimal darf ich „Lernwörter“ ansagen und die Freude teilen, wenn ein Wort richtig geschrieben ist. Die Kinder sind sichtlich stolz, wenn sie eine Aufgabe geschafft haben. Und sie fragen jederzeit und ohne Angst, wenn sie sich nicht auskennen. Wer eine Pause braucht, spielt ein Spiel – das also steckt hinter dem Wort „Konzentrationsübung“ – und lernt danach weiter.
Ich kann nur ahnen, wie viel pädagogisches Know How, Geduld und Hingabe dahinter stecken, um diesen wunderbaren Lernraum zu ermöglichen. Und ich bin einmal mehr dankbar, dass meine Kinder hier so großartig begleitet werden! Alternativkinder sind laut und chaotisch und lernen nichts? Wer sich vom Gegenteil überzeugen will, kann uns gerne mal besuchen.